Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät - Geographisches Institut

Alfred Rühl (1882-1935)

Seit September 2003 hat das Geographische Institut der Humboldt-Universität zu Berlin sein neues Domizil in der Rudower Chaussee 16 in Berlin-Adlershof bezogen, das den Namen Alfred Rühl-Haus trägt.

ruehl.gifAlfred Rühl, geboren am 21.07.1882 in Königsberg und gestorben am 13.08.1935 in der Schweiz, studierte seit 1900 Geographie, Geologie, Geschichte und Sozialwissenschaften, zuerst in Königsberg und Leipzig, dann in Berlin, wo er in Ferdinand von Richthofen, dem Gründer des Berliner Geographischen Institutes, einen wissenschaftlich herausragenden und auch persönlich überzeugenden Lehrer fand, der eine nachhaltigen Eindruck auf ihn machte. Als sein letzter Doktorand wurde er von ihm 1905 mit "Beiträgen zur Kenntnis der morphologischen Wirksamkeit der Meeresströmungen" promoviert, die auf eigenen Beobachtungen an der nördlichen Adriaküste und einer umfassenden Literaturkenntnis beruhten. Vier Jahre später, 1909, habilitierte er sich bei Theobald Fischer in Marburg, dessen Assistent er seit 1908 war, mit "Geomorphologischen Studien aus Catalonien". 1911 nahm Rühl an einer mehrmonatigen großen transkontinentalen Exkursion der Amerikanischen Geographischen Gesellschaft unter Leitung von William Morris Davis teil, der sich 1908/09 als Austauschprofessor in Marburg und Berlin aufgehalten hatte. Mit der Übersetzung und zugleich terminologischen Überarbeitung von dessen Berliner Vorlesungsniederschriften, 1912 unter dem Titel "Die erklärende Beschreibung der Landformen" als Buch erschienen, schuf Rühl die Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Davis'schen Zyklenlehre, die seinerzeit unter den jüngeren deutschen Geomorphologen, aber auch einigen älteren, Furore machte. Dabei übersah er keineswegs die Schwächen des Amerikaners, der (nach Haggett) noch heute als der vielleicht größte physische Geograph der Welt gilt, und entwickelte dessen Vorstellungen z.T. eigenständig weiter.

Nach kurzer Dozententätigkeit in Marburg wurde Rühl 1912 mit der Leitung der wirtschaftsgeographischen Abteilung des Instituts für Meereskunde an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin betraut, dort 1914 zum a.o. Professor und 1930 zum o. Professor für Wirtschaftsgeographie ernannt. Anfangs selbst noch stark von der Erdoberfläche her in den traditionellen Bahnen der "geographischen Bedingtheit" denkend, erkannte er schon bald die Unzulänglichkeit dieses Konzeptes für die Erklärung raumdifferenzierter Sachverhalte und zeigte durch eine Reihe von Fallstudien, darunter die Arbeiten zum "Wirtschaftsgeist" in Spanien (1922, 2. Auflage 1928), im Orient (1925) und in Amerika (1927), die Notwendigkeit einer sozialwissenschaftlichen Fundamentierung der Wirtschaftsgeographie und darüber hinaus der Geographie des Menschen überhaupt auf, sollte diese nicht auf eine "physische Anthropogeographie" resp. einen Zweig der Biogeographie reduziert werden.

ruehl1.gifRühls innovative Herangehensweise stieß außerhalb der Geographie auf große Resonanz. Speziell seine Untersuchung "Zur Frage der internationalen Arbeitsteilung" (1932) galt bei führenden Wirtschaftswissenschaftlern als eine der bedeutendsten weltwirtschaftlichen Arbeiten der damaligen Zeit. Innerhalb der Geographie konnte sich Rühls Position trotz vielfach positiver Besprechung seiner Schriften jedoch zunächst nicht gegen das noch immer dominierende ältere Fachverständnis durchsetzen, wonach die Humangeographie kaum mehr als eine Fortsetzung der naturgeographischen Welterschließung war und die Wirtschaftsgeographie auf keinen Fall "Standortslehre" werden sollte. Vor dem Hintergrund dieses Fachverständnisses mußte er als Außenseiter und "Grenzgänger" erscheinen, zumal er sich, belesen wie kaum ein anderer, auch intensiv mit soziologischer Literatur auseinandersetzte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde seine konzeptionelle und methodische Pionierleistung allmählich für die Humangeographie von führenden Wirtschafts- und Sozialgeographen erkannt und gewürdigt und von der Disziplingeschichtsschreibung bestätigt.

Mit Rühl als Namensgeber des Institutsgebäudes wird an einen Berliner Geographen erinnert, der als Nonkonformist konsequent seinen Weg ging und sich nicht aus Karrieregründen dem Diktat der Verteidiger des traditionellen Paradigmas beugte. Zugleich wird mit ihm ein Geograph geehrt, der seine Laufbahn unter Ferdinand von Richthofen und Theobald Fischer als engagierter physischer Geograph begann und diese als ebenso engagierter, inzwischen als "Altmeister der Wirtschaftsgeographie" (Otremba) und Ideengeber der Sozialgeographie in die Lehrbuchliteratur eingegangener Humangeograph fortsetzte, doch ohne seine frühere Liebe zur physischen Geographie (damals mit Geomorphologie fast identisch) zu vergessen. So sehr Rühl die unter Dominanz der Naturfaktoren stehende Länderkunde als die Krönung des Faches bekämpfte, so wenig hielt er von einer schroffen Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften und anerkannte, daß die physische Geographie eine der wichtigsten Grundlagen der Humangeographie bleibe, nur erdrücken dürfe sie diese nicht.

Alfred Rühl erlebte seine Rehabilitierung als Geograph nicht mehr. An einer plötzlich auftretenden Netzhautablösung leidend, unterzog er sich mehreren Augenoperationen, die jedoch ohne nachhaltigen Erfolg blieben. Zu dieser gesundheitlichen Bedrohung kam aufgrund seiner "nicht rein arischen Herkunft" und der kritischen Haltung gegenüber dem NS-Regime die politische Bedrohung seiner beruflichen Existenz. Rühl entzog sich den anlaufenden Repressalien (auch von Seiten regimegläubiger Studenten) während eines Kuraufenthaltes in der Schweiz durch den Freitod.

Ausführliche Würdigung von Alfred Rühl aus der Zeitschrift Die Erde 134 (PDF-Datei 3,4 MB)